In uns schallt der ewige Ruf:
Hier ist das Problem. Suche nach einer Lösung!
Du findest sie durch reine Überlegung,
denn in der Mathematik gibt es kein ignoramus et ignorabimus.
David Hilbert 1890
Wir kennen das: Wird man mit einem schwierigen Problem konfrontiert, ist
man schnell versucht, es als zu schwer beiseite zu legen. Man denkt sich
vielleicht: Zu einer vernünftigen Lösung brauche ich einen
bestimmten Trick, eine spezielle Methode, die ich aber gar nicht kenne.
Daher liegt eine vernünftige Lösung außerhalb meiner
Möglichkeiten. Diese defätistische Sichtweise scheint uns sehr
plausibel und verbreitet zu sein. Dennoch ist ein solcher Standpunkt
falsch.
Während des 19. Jahrhunderts wurde immer offenkundiger: Je mehr
Wissenschaftler von der Natur lernten, desto klarer wurde: Je
größer die Insel des Wissens, desto größer das Ufer
des Nicht-Wissens. Die Hoffnung auf die volle Wahrheit verflog.
Diese Erkenntnis hat der deutsche Philosoph Emil du Bois Reymond (1818 -
1896) in eine griffige lateinische Formel gebracht: Ignoramus et
ignorabimus - “Wir wissen es nicht und werden es auch nicht
wissen”. Das Schlagwort von der Unlösbarkeit der Welträtsel
ist inzwischen allgemein akzeptiert. Aber zur Jahrhundertwende hat David
Hilbert eine Wissenschaft ausdrücklich hiervon ausgenommen: Die
Mathematik ist anders. In seinen Worten: “Wir können
Probleme mit der festen Überzeugung angehen, daß ihre
Auflösung nach einer Reihe logischer Prozesse erfolgt.” David
Hilbert sprach zwar von mathematischer Forschung. Doch das Prinzip
läßt sich sehr wohl auf das Lösen von mathematischen
Problemen übertragen. Wenn ein Mathematiker ein Problem untersucht,
dann in dem Bewußtsein, daß es mit den zur Verfügung
stehenden Mitteln erfolgreich gelöst werden kann. Und die Praxis gibt
ihm recht.
Die Lösungsfindung eines Problems ist vergleichbar der Situation, mit
einem lächerlich kleinen Schlüsselbund ein teuflisch raffiniertes
chinesisches Schatzkästlein zu öffnen, das viele verborgene
Schubfächer und Kammern besitzt. Oberflächlich betrachtet
erscheint es völlig glatt, keine aneinander stoßenden Kanten,
nicht die geringste Vertiefung geben einen Hinweis auf bewegliche Teile.
Wenn man nicht sicher wüßte, daß dieses Teufelsspielzeug
sich irgendwie öffnen ließe, würde man es gar nicht erst
probieren. Allein das Wissen um einen Zugang zum Kästchen
läßt uns weitersuchen, jede Andeutung eines Risses oder Spalts
wird weiter verfolgt. Man hat nicht den Schimmer einer Idee, wie sich die
Teile zusammenfügen oder welcher Schlüssel passen könnte.
Nach und nach werden gewisse, vielversprechende Schlüssel an den
aussichtsreichsten Stellen ausprobiert, bis endlich der richtige gefunden
worden ist und sich die Fächer bewegen lassen.
Bei einem guten Geduldsspiel erfolgt die Auflösung niemals als
Ergebnis des Zufalls. Später, wenn der Zugang freigelegt wurde,
weiß man auch, wo man zweckmäßiger hätte beginnen
sollen. Bei einem meisterhaft gefertigten Puzzle bringen nur
Beharrlichkeit, Zuversicht und genügend Zeit letztlich den Erfolg. Das
gilt auch für ein gutes mathematisches Problem. Man sollte deshalb nie
zu früh aufgeben und nach erfolgreicher Lösung stets den Blick
zurück richten und sich fragen: Was hätte ich anders machen
können? Nur so lernt man mit der Zeit, Probleme zu lösen.
Probleme sind für die (angewandte) Mathematik so unverzichtbar, wie es
Fabeln, Geschichten oder Anekdoten für junge Menschen sind, um ihnen
das wirkliche Leben begreiflich zu machen. Ein mathematisches Problem ist
zwar oftmals ‘polierte’ Mathematik; irgend jemand hat schon eine
elegante Lösung gefunden, und die Formulierung der Frage ist von allem
überflüssigen Schnickschnack befreit. Problemlösen ist schon
mal mit der Suche nach Gold verglichen worden. Sie besitzt alle Merkmale
des Versteckspiels: Man ist auf der Suche nach einem vergrabenen
Goldklumpen, weiß, wie er aussieht, kennt den ungefähren
Grabungsort. Mit geeigneter Ausrüstung bedarf es kaum
übermenschlicher Anstrengungen, um an den kostbaren Stein zu kommen.
Der unförmige Klumpen mag wohl listig verborgen sein, doch mit
Tücke und Geschick läßt sich der Brocken ohne lästiges
Graben aus der Erde hervorholen. Das Ergebnis einer Suche verschafft oft
nur den letzten ‘Kick’ der Weg dorthin ist die eigentliche Droge.
Carl Friedrich Gauss hat diese stimulierende Wirkung einst so beschrieben:
“Es ist nicht das Wissen, sondern das Lernen, nicht das Besitzen,
sondern das Erwerben, nicht das Da-Sein, sondern das Hinkommen, das den
größten Genuß gewährt.”
Es gibt viele Autoren, die in ihren Büchern seitenlang über das
Wesen des Problemlösens philosophiert haben (Lakatos, Polya,
Schoenfeld). Ich möchte dem Leser diese Literatur wärmstens
empfehlen. In dieser Rubrik sollen jedoch direktere Zugänge zu
Problembereichen gegeben werden. Um im Bild zu bleiben: Wir werden
zeitsparende Grabungstechniken vorstellen. Eine Botschaft ist aber allen
diesen Büchern gemeinsam: Problemlösen läßt sich nur
durch Lösen von Aufgaben erlernen. Man wird ja auch nicht ein guter
Klavierspieler, ohne zu üben. Das Klavierstudium besteht aus nicht
enden wollenden Übungsteilen von zunehmendem Schwierigkeitsgrad und
nicht aus endlosen Gesprächen darüber, wie man in die Tasten
greifen muß. Ebenso lernt kein Mensch denken, indem er die
aufgeschriebenen Gedanken anderer liest, sondern dadurch, daß er sich
selbst Gedanken macht. Ähnliches ging mir durch den Kopf bei der
Planung der Werkstatt Mathematik. Über das Problemlösen zu
schreiben, ist ziemlich töricht - so unnütz etwa, wie eine
Anleitung über das Schwimmen oder Geigespiel zu verfassen. Diese
Künste erlernt man nicht durch bloßes Lesen. Man muß sie
tun, sich ganz in sie hineinvertiefen. Die Verbesserung von
Problemlösefertigkeiten kann nur nach einem strengen (Diät-)Plan
aus harter Praxis, Erfahrung und einem Schuß Kreativität
erfolgen.
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